Soziales Engagement hat viele Gesichter, insbesondere in einer Universitätsstadt wie Münster, in der allein während der Lehrveranstaltungen tagtäglich Tausende von Lebensläufen und Millionen von Ideen aufeinandertreffen. Viele Studierende setzen sich auf ihre ganz eigene Weise dafür ein, unsere Gesellschaft ein wenig inklusiver und vielseitiger zu gestalten. Die einen betreuen Kinder- und Jugendgruppen, andere begleiten Studierende aus anderen Ländern auf dem Weg durch den Uni-Alltag – und wieder andere gründen ein Start-up, das sich mit ausgefallener Mode und viel Herzblut für Integration einsetzt.
Im Interview erzählt Felix von Kathen von bayti hier, wie er gemeinsam mit befreundeten Kommiliton:innen noch während des Studiums ein integratives Modelabel gründete – und wie soziale Verantwortung im Start-up-Alltag aussehen kann.
Integration mit Herz und Stil
Dass sie noch vor Abschluss des Studiums ein Start-up gründen würden, wussten Pia Brillen und Michael Kortenbrede nicht, als sie 2016 die Ergebnisse der Kommunalwahlen betrachteten. Sie sahen zunächst nur, dass die Alternative für Deutschland (AfD) 2016 in Münster zahlreiche Wähler:innen für sich gewonnen hatte – unter anderem mit der Behauptung, die Integration Geflüchteter in die deutsche Gesellschaft sei unmöglich.
Ein politisches Statement, das die beiden Studierenden so nicht akzeptieren wollten. Sie waren und sind bis heute der festen Überzeugung: Interkulturalität kann nicht nur funktionieren, sondern den Alltag aller Beteiligten auch unglaublich bereichern.
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Aber was tun? Stiller Ärger ist nichts für Pia und Michael. Schon 2016 wollten sie etwas bewegen und engagierten sich daher zunächst in einem Welcome Café, in dem sich Deutsche und Geflüchtete austauschen können. Hier lernten sie ein syrisches Ehepaar kennen, mit dem sie sich auf Anhieb gut verstanden. Als sich herausstellte, dass Mohammad und Ilham in Syrien Schneider:innen waren, kam ihnen die zündende Idee: Kleidung als Weg zur Integration.
„Uns geht es darum, Mode mit einer Message zu gestalten“, erzählt Felix. Er hat Pia und Michael nicht nur als Freund und Gleichgesinnter, sondern begleitet das Start-up nun auch als Geschäftsführer. „Wir bezeichnen bayti hier als integratives Label, weil wir uns in zweifacher Hinsicht für Integration einsetzen. Zum einen wollen wir Geflüchteten dabei helfen, auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen – und zum anderen wollen wir mit unserer Mode eine positiv erlebte Interkulturalität fest im Alltag unserer Kund:innen verankern.“
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Felix von Kathen, Geschäftsführer von bayti hier
Wie kann ein Start-up soziale Verantwortung übernehmen? Drei Ideen für mehr Miteinander
Felix: Für uns stand immer fest, dass bayti hier kein deutsches Start-up sein soll, das einfach gezielt Geflüchtete einstellt. Wir wollen gemeinsam etwas Neues schaffen. Das fing schon bei der Wahl des Namens für unser Label an. Im Arabischen bedeutet „bayti“ so viel wie „mein Haus, mein Zuhause“. So entsteht das deutsch-arabische Motto, für das wir uns stark machen wollen: „Hier bin ich zu Hause.“ Und wirklich zu Hause sind wir nun einmal nur dort, wo wir uns wohlfühlen – wo wir Teil einer Gemeinschaft sind und an der Gesellschaft teilhaben können.
In Deutschland führt der Weg zu dieser Teilhabe definitiv auch über den Arbeitsmarkt. Natürlich geht es dabei auch ums Finanzielle, aber mindestens genauso wichtig sind die sozialen und kulturellen Aspekte: Durch die Arbeit lernen wir Menschen, Sprache und Kultur ganz anders kennen als nur über Kurse. Außerdem gewinnen wir durch die Berufstätigkeit an Selbstbestimmung im Alltag – und die ist gerade für Geflüchtete, die aus wirklich unerträglichen Situationen zu uns kommen, extrem wichtig.
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1. Interkulturelles Design lädt zum Dialog ein
Felix: Unsere Mode verbindet westliche Trends mit arabischen Mustern und Formen. So entstehen Fashion Statements, die ganz bewusst zwischen den Stühlen stehen und sich da auch pudelwohl fühlen. Für die Umsetzung unseres deutsch-arabischen Stilmixes ist Mohammad verantwortlich. Er hilft uns bis heute beim Design unserer Kollektionen. Eine Freundin aus Ägypten sorgt außerdem für ein ganz besonderes Highlight: Wann immer sie in Deutschland ist, bringt sie uns immer authentische Materialien vom ägyptischen Stoffmarkt mit. Die Muster und Farben sind für die einen ein bisschen Fernweh, für die anderen ein Stück Heimat – und immer ein echter Hingucker.
Als Hommage an diese Zusammenarbeit über Sprachen und Ländergrenzen hinweg sticken wir auf alle unsere Produkte einen arabischen Schriftzug, der übersetzt „gemeinsam vereint“ bedeutet. Mode ist ja bekanntlich immer ein Statement, aber damit wollen wir noch einmal ganz bewusst zum Austausch anregen. Und das funktioniert wirklich gut.
Wir hören nicht nur von unseren Kunden, dass sie auf ihre bayti-hier-Mode angesprochen werden, sondern erleben das auch immer wieder selbst. Auf Märkten und Events kommen Deutsche auf uns zu und fragen, was da eigentlich steht. Menschen, die selbst Arabisch sprechen, sehen wiederum nicht nur die Message, sondern auch, dass wir syrisches Arabisch schreiben. Da gibt es in der arabischen Welt je nach Land ganz deutliche Unterschiede, nicht nur in der Aussprache, sondern auch im geschriebenen Wort – und allein darüber kann man super ins Gespräch kommen.
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2. „Pay it forward“ macht die Gesellschaft ein bisschen fairer
Felix: Wir wollen als Unternehmer:innen einerseits selbst soziale Verantwortung übernehmen, andererseits aber auch unseren Kunden und Kundinnen die Möglichkeit bieten, sich einzubringen. Wenn jede Person nur ein bisschen mit anpackt, können wir gemeinsam einfach so viel mehr füreinander tun.
Aus diesem Grund bieten wir in unserem Onlineshop auch die sogenannten Nicht-für-mich-Produkte an. Das sind zunächst ganz normale Produkte aus unserem Sortiment: Jedes Kleidungsstück, jedes Accessoire kann zu einem Nicht-für-mich-Produkt werden. Was sie besonders macht, sind unsere Kunden und Kundinnen, die diese Artikel nicht für sich einkaufen, sondern für Menschen, denen dafür gerade einfach das Geld fehlt.
Das funktioniert ähnlich wie das „pay it forward“-Modell, bei dem Leute in einem Café nicht nur ihren eigenen Cappuccino bezahlen, sondern gleich noch Geld für einen zweiten auf den Tresen legen und den Baristas sagen: „Wenn ihr jemanden seht, der eine kleine Aufmunterung gebrauchen kann, dann gebt ihm von mir eine Tasse aus.“ Ja, im Grunde ist das ein Spendensystem, aber eben ein besonders Treffsicheres: Da es immer dann greift, wenn jemandem die Mittel für einen ganz bestimmten Kauf fehlen, erfüllt jedes Nicht-für-mich-Produkt einen Herzenswunsch.
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Wir organisieren das, indem wir alle Stücke, die als Nicht-für-mich-Produkt gekauft wurden, erst einmal reservieren. Wer in unserem Shop ein neues Lieblingsstück entdeckt hat, das er oder sie sich gerade nicht leisten kann, findet auf unserer Website ein Formular, über das man uns eine kurze Nachricht zu Wunschprodukt und Größe schreiben kann. Wir schauen dann, ob wir diesen Artikel gerade als Spende auf Lager haben – und falls nicht, setzen wir die Bewerber:innen natürlich auf eine Warteliste, bis jemand ein passendes Nicht-für-mich-Produkt kauft.
3. Ein Herz für Lebensläufe mit Ecken und Kanten
Felix: Um Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenslagen bei der Integration in den Arbeitsmarkt unterstützen zu können, bilden wir inzwischen auch im Bereich Büromanagement aus. Dabei arbeiten wir mit dem Kolping-Bildungszentrum Westfalen zusammen, einer Stiftung aus Hamm, die ihren Partnerbetrieben junge Menschen vorstellt, für die sich aus irgendeinem Grund kein Ausbildungsplatz finden will.
Das klingt jetzt vielleicht so, als wären das einfach „schwierige“ Azubis, aber die Realität sieht anders aus. Bei einer Bewerbung hat man es zunächst nicht mit Menschen, sondern mit Datensätzen zu tun. Mit einem Lebenslauf, der aus Gründen, für die wir vielleicht gar nichts können, zwischendrin auch mal eine Lücke hat. Bei jungen Menschen kommt dann noch erschwerend hinzu, dass einfach nicht so viel Arbeitserfahrung vorhanden sein kann. Woher auch?
Deshalb finden wir es so wichtig, zuerst herauszufinden, ob das Menschliche und der Teamgeist passen. Der Rest ist Wissen und Übung – und die kommen sowieso mit der Zeit. Unsere erste Auszubildende ist da ein tolles Beispiel. Sie macht inzwischen schon seit einigen Monaten die Modewelt mit uns unsicher und ich muss echt sagen: Sie ist eine Bereicherung für unser Team, sowohl als Person als auch durch die tolle Arbeit, die sie leistet.
Das ist auch der Grund dafür, dass wir anderen Unternehmern und Unternehmerinnen so gern davon erzählen: Ein Ausbildungsplatz gibt allen Beteiligten die Chance, sich weiterzuentwickeln. Und das ist ein Projekt, das jedes Unternehmen stemmen kann – zum Beispiel mit Unterstützung durch den Europäischen Sozialfonds (ESF), so wie wir das gemacht haben. Für die ersten 20 Monate einer Ausbildung gibt es vom ESF jeweils 400 Euro Zuschuss, damit die Auszubildenden angemessen vergütet werden können. Unsere Auszubildende haben wir über das Kolping-Bildunszentrum Westfalen vermittelt bekommen, über welches die Förderung des Europäischen Sozialfonds NRW läuft.
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Pop-up-Store statt Ladenlokal: bayti hier auf Tour
Felix: Unsere ersten Kollektionen haben wir ausschließlich über unseren Onlineshop verkauft. Mit der Zeit fanden wir es aber auch wichtig, unsere Sichtbarkeit zu erhöhen und mit unserer Message auch die Menschen zu erreichen, die nicht unbedingt online nach neuen Klamotten suchen. Also haben wir uns aus dem reinen Onlinegeschäft und in den mehr oder weniger stationären Einzelhandel gewagt.
Auch dabei sind wir unserem Motto treu geblieben: Unser Zuhause ist hier – und das ist überall, wo wir gerade sind. Anstelle eines klassischen Ladenlokals haben wir uns für einen alten Bauwagen entschieden. Den haben wir gründlich renoviert und in unseren bayti-hier-Pop-up-Store verwandelt, komplett mit Kleiderständern und einer hübschen kleinen Umkleide, in der unsere Kunden und Kundinnen ihre Lieblingsstücke in aller Ruhe anprobieren können.
Sein Debüt hatte unser Pop-up-Store auf dem Wochenmarkt hier in Münster. Direkt vor dem Dom gab es jeden Samstag unsere Mode zu kaufen. Und das Feedback unserer Kunden war sehr, sehr gut. So gut, dass wir mit unserem Bauwagen auf große Tour gegangen sind. Bis Corona uns da ausgebremst hat, waren wir den ganzen Sommer über auf Festivals und Events in ganz Deutschland unterwegs. Und ich glaube, es hat uns allen richtig gutgetan, zu sehen, wie viel Zuspruch wir auch außerhalb von Münster bekommen – sowohl für unsere Mode als auch für unsere Message. Sobald wir wieder dürfen, sind wir auch ganz sicher wieder mit dem Pop-up-Store unterwegs.
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Raum für Begegnungen in der neuen Heimat: Bayti e.V.
Für das Team von bayti hier sind Mohammad und Ilham nicht nur Lieblingsteammitglieder, sondern vor allem Freunde. Und es freut sie alle unheimlich, zu sehen, wie wohl sich die beiden heute in Deutschland fühlen. Mohammad hat inzwischen seinen Führerschein und eine Vollzeitstelle, die ihm riesigen Spaß macht. „Sie sind angekommen und auch unsere Auszubildende hat ihren Platz im Arbeitsleben gefunden“, freut sich Felix. „Wenn bayti hier für sie und andere diesen Weg ebnet, dann leisten wir genau das, was wir uns vorgenommen haben.“
Sich auf den bisherigen Erfolgen auszuruhen, das liegt dem Team von bayti allerdings so ganz und gar nicht: „Wenn es an einer Stelle rund läuft, haben wir schon das nächste Projekt parat“, lacht Felix. Zusätzlich zum Modelabel betreiben die Gründer:innen daher auch den Verein bayti hier e.V. – eigenes Event-Team und Begegnungsstätte mitten in Münster inklusive. In einem alten, leerstehenden Elektrizitätswerk hat bayti hier Raum für Kunst, Kultur und interkulturelles Miteinander geschaffen. Denn nach gelungener Integration in den Arbeitsmarkt fehlt zum echten Ankommen in Deutschland eigentlich nur noch eines: Ein Freundeskreis in der neuen Heimat.
Über die Autorin: Inara Muradowa ist SEO & Content Beraterin. Ihr Schwerpunkt ist der Bereich E-Commerce. Im Shopify-Blog porträtiert sie am liebsten erfolgreiche Gründer*innen und gibt Insider-Tipps zu aktuellen Trends.
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